Die folgende Medienmitteilung ist eine gemeinsame Erklärung der JUSO St.Gallen, der Solidaritätsgruppe „Ein Stern für Menschlichkeit“ und der Aktion Zunder. Sie fällt deshalb länger aus als gewohnt, weil wir es für wichtig erachten, die gesamten Umstände so genau wie möglich zu schildern, damit sich die Leute ein möglichst vollständiges Bild machen können.
Die Leichen im Keller
Ausschaffungen sind „die Leichen im Keller unserer Integrationsgesellschaft“ und eine der massivsten Formen des Ausschlusses. Nicht erst im Zuge der Verschärfung der Ausschaffungspraxis durch die menschenverachtende Ausschaffungsinitiative reiht sich die Schweiz in die Liste jener europäischen Länder ein, die tagein tagaus, in einer erschreckenden Normalität Menschen ausschaffen und ihrer Bewegungsfreiheit berauben. Staatliche Behörden versuchen immer wieder den Anschein zu erwecken, dass es sich bei diesen Ausreisen um legitime, normale Vorgänge handelt. Betroffene und Aktivist*innen nennen es jedoch längst beim Namen: Deportation, Zwangsabschiebung. Denn Abschiebung bedeutet unvorstellbares Leid, Traumatisierung für Kinder und Familien und geht oft mit einer Haftstrafe einher.
Familie H.
In den letzten zwei Wochen sind – erst durch das Engagement solidarischer UnterstützerInnen – Details zu zwei Ausschaffungen an die Öffentlichkeit gelangt. Sie stehen stellvertretend und symbolisch für die Ausschaffungspraxis im Allgemeinen und für die vielen unbekannten Fälle.
Die Familie H. sind irakische Kurden und verliessen ihre Heimat nach kriegerischen Angriffen des IS. Sie lebten seit Beginn 2016 in St.Gallen im Lachenquartier, wo sie sich schnell heimisch fühlte, das schulpflichtige Mädchen besuchte die Schule und alle lernten Deutsch. Seit dem Dublin-Entscheid im Sommer 2016 lebte die Familie in ständiger Ungewissheit und Angst, nach Italien ausgeschafft zu werden, was die gesundheitliche Situation aller sehr belastete. Der Familienvater wurde zeitweise gar in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Es ist zudem bekannt, dass die Aufnahmestrukturen in Italien durch die Dublinverordnung und die fehlende europäische Solidarität völlig überlastet sind und eine menschenwürdige Unterbringung, gerade für besonders schutzbedürftige Menschen (Familien), selten möglich ist.
Die Familie wurde nach zwei missglückten Ausschaffungsversuchen (ohne Information des Ausreisetermins waren zweimal nicht alle zuhause als die Polizei die Familie abholen wollte)
Ende Januar bei einem Kontrolltermin auf dem Migrationsamt zuerst in Ausschaffungshaft genommen. Dies obwohl die Familie beim wöchentlichen Kontrolltermin sieben Tage zuvor beteuerte, freiwillig ausreisen zu wollen.
Der Sonderflug der Turkish Airlines – ja, mit Ausschaffungen wird auch gutes Geld verdient –
brachte sie, von etwa 30 (!) Polizisten begleitet, nach Catania. Sie waren die einzigen Fluggäste in diesem Flugzeug (was die Polizisten nicht daran hinderte, eine 20Kilo Gepäcklimite durchzusetzen). Den erwachsenen Familienmitgliedern wurden während des Fluges Hand- und Fussfesseln angelegt. Die Familie hatte weder Zeit, sich von FreundInnen zu verabschieden, noch ihre Koffer zu packen oder Geld in Euro zu wechseln. Alle Familienmitglieder mussten 5 Mal eine Leibesvisite über sich ergehen lassen.
Mittlerweile ist die Familie in Patù (Lecce) angekommen und hat eine kleine Wohnung beziehen können. Zurück bleibt die Chronik einer Ausschaffung und unglaublich viel Wut und Trauer über die grobe, unverhältnismässige Art und Weise wie mit, in diesem Fall noch besonders verletzlichen, Menschen umgegangen wird. Es bestätigt sich einmal mehr die Einsicht, dass Ausschaffungen bewusst so durchgeführt werden, dass sie Menschen in voller Absicht physischer Gewalt aussetzen, traumatisieren und ängstigen.
Die Kritik
Unsere Kritik bezieht sich auf verschiedene Ebenen. Ursprung des Migrationsunrechtsregimes ist die Dublin-Gesetzgebung, an der die Schweiz aus xenophobem Eigennutz festhält und die Verantwortung an Grenzstaaten wie Italien abschiebt und nicht bereit ist, von sich aus mehr Geflüchtete aufzunehmen. Denn jedes Mitgliedsland kann auf Dublin Ausschaffungen verzichten, wenn sie die Situation für Betroffene im Dublin-Land als nicht zumutbar einschätzt. Um Gesetze zu ändern, braucht es lauten Widerstand auf den Strassen und politische Vertreter, welche sich nicht der Abschreckung und Militarisierung, sondern einer gleichberechtigten und solidarischen Welt verpflichtet fühlen.
Doch die Mitverantwortung liegt auch in unserer unmittelbaren persönlichen Nachbarschaft. Das Bild hat sich durch diesen Fall erhärtet, dass das St.Galler Migrationsamt nicht nur nicht gewillt ist, minimale rechtliche Spielräume auszunutzen. Es scheint auch ganz so, dass die zuständigen SachbearbeiterInnen und die Amtsleitung die Asylgewährung und den Umgang mit Geflüchteten nicht als aktive Schutzleistung betrachten, sondern diese in einem bürokratischen Gehorsam und einer erstaunlichen Verbissenheit als persönliche und böswillige Gegenspieler wahrnehmen und MigrantInnen pauschal unterstellt wird, nicht schutzbedürftig zu sein.
Fredy Fässler als Kantonsrat und Vorgesetzter des Migrationsamtes hätte durchaus Handlungsspielraum gehabt. Nicht zuletzt die Art und Weise der Ausschaffung kann nicht in seinem Sinne sein. Die Dublin III-Verordnung weist die Zuständigkeit für das Asylgesuch dem ersuchenden Mitgliedstaat zu, wenn dieser nicht innerhalb von sechs Monaten die Ausschaffung durchführt. Das Migrationsamt hätte – gerade aufgrund der psychisch labilen Situation mehrerer Familienmitglieder – diese Frist verstreichen lassen können.
Doch auch unabhängig von der gesetzlichen Lage, finden wir: Das perfide Versteckspiel hinter den Gesetzestexten muss endlich aufhören. Jedes Gesetz braucht Menschen, die es durchsetzen. Niemand ist gezwungen bei den Ausschaffungsbehörden arbeiten.
Der Fall der Familie H. offenbart eine erschreckende Unverhältnismässigkeit, wenn dreissig Polizisten einen Sonderflug begleiten oder psychische Druck auf Menschen, der vor und während der Ausschaffung herrscht, in Kauf genommen wird.
Marija Milunovic – eine verpasste Frist
Auch der Fall von Marija Milunovic, dem momentan gerade sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, illustriert, dass die Härte des Gesetzes und die Abschreckung Vorrang vor Menschenwürde hat. Wegen einer verpassten Frist wurde die 17-jährige Marija am vergangenen Dienstag nach Serbien ausgeschafft. Auch sie wurde davor zuerst in Ausschaffungshaft gesteckt. Wir möchten jedoch nicht in das argumentative Muster verfallen, zwischen „guten“ und uns nahestehenden und „schlechten“ MigrantInnen zu unterscheiden, wie dies momentan in diesem Fall oft geschieht. Solidarität und Gerechtigkeit kennen keine Grenzen – sie gelten für Alle. Und sie gilt auch für jene, denen nicht die gleiche Öffentlichkeit zuteil wird, jene die im Verborgenen ausgeschafft werden. Im Jahr 2016 waren es gesamtschweizerisch 6’539 Personen.
Ausschaffungen sind auf Illegalisierung angewiesen, die immer wieder neu produziert wird. Für uns ist klar, dass Menschen nicht illegal sein können und mit ihrer alleinigen Präsenz gegen Gesetze verstossen können. Die lokalen und kantonalen Behörden haben immer einen Handlungsspielraum, den sie zugunsten von Migranten und Flüchtlingen nutzen können. Und wenn nicht, dann müssen sie ihn sich nehmen – sofern sie danach streben. Im Kanton St.Gallen kann der ehemalige Polizeihauptmann und Flüchtlingsretter Paul Grüninger dafür ein Vorbild sein.
Wie können wir von einer gerechteren Welt sprechen, wenn Menschen in unserem Umfeld täglich von staatlicher Gewalt betroffen sind oder diese fürchten müssen? Für uns ist klar: Stoppt Dublin – Stoppt die Ausschaffungen – kein Mensch ist illegal!
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Ein kleiner Rückblick, der zeigt, dass die Behörden mit unterschiedlichen Ellen messen, wenn es um Bleiberecht geht: 2014 wurden dem russischen Millionär Michail Chodorkowski vom Bundesamt für Migration und dem kantonalen Migrationsamt ohne grosses Zögern eine Aufenthaltsbewilligung erteilt, da „erhebliche fiskalische Interessen“ vorliegen würden.